Gelungener Faust - Theaterkritik der Zeitungen
Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ in weniger als 90 Minuten? Geht nicht? Doch, das geht. Wenn man das ausufernde Opus mit so viel Fingerspitzengefühl und Herzblut eindampft, wie es Festspiel-Intendant Daniel Leistner bei seiner auffallend ambitionierten Pegnitzer „Digest-Fassung“ getan hat.
Geht es nach dem Festspiel-Intendanten und Regisseur, dann verwandelt sich der Schlossberg wie berichtet im nächsten Jahr in ein großes Freilichttheater-Areal, in dem es neben dem „Faust“ als Dauereinrichtung noch andere Werke des Theaterkanons in „volksnahen“ Versionen geben soll.
Daniel Leistner, der in der aus Kronach nach Pegnitz „importierten“ Inszenierung Regie führte und auch die Hauptrolle übernommen hat, gab in der alten Turnhalle des Gymnasiums trotz sehr beengter Verhältnisse eine nachgerade beeindruckende Visitenkarte seines Theaterschaffens ab.
Es ist wohl das bedeutenste Werk der deutschen Literatur: Faust von Johann Wolfgang von Goethe. Festspiel-Intendant Daniel Leistner, der selbst die Hauptrolle einnahm, schaffte es mit seinem Stück, das Publikum in der Turnhalle des Gymnasiums zu begeistern.
Auch und gerade, weil Leistner sich auf ein homogenes, blind aufeinander eingespieltes Ensemble verlassen kann, das mit professioneller Souveränität agiert und bei dem die konzentrierte Ernsthaftigkeit des Spiels kein Hinderungsgrund für passagenweise Schwarzhumorigkeit ist.
Für die ganz bösen Scherze ist vorlagengetreu Fausts teuflischer Gefährte Mephisto zuständig, den Uwe Vogel in einer wohl balancierten Mischung aus dämonischer Omnipotenz und ganz menschlichen Schwächen verkörpert. Ein sympathischer Satan, für den der Kampf um die Seele des Sinnsuchers Faust zeitweilig in ebenso harte wie unangenehme Arbeit ausartet. Etwa dann, wenn er der Sache halber — das tugendhafte Gretchen muss für Faust „zur Strecke gebracht“ werden — ein Techtelmechtel mit Gretchens Nachbarin und Freundin Marthe (mutterwitzig und schlitzohrig: Julia Knauer) anfängt und sich vor der molligen Bauernmaid zunächst sichtlich ekelt.
Ganz großes Autorentheater ist, was Caroline Horn aus ihrer Zentralfigur macht: Horns Gretchen wandelt sich höchst plausibel vom schüchternen Landmädchen zur erwachsenen Frau, hasserfüllt und resigniert. Wenn sie am Ende höchst angewidert ihren längst zum geflügelten Wort gewordenen Satz „Heinrich! Mir grauts vor dir“ zwischen den Zähnen durchpresst, atemlos vor Wut und Verzweiflung, dann wird die Persönlichkeit jenseits der Bühnenfigur plastisch greifbar. Daniel Leistners Faust wird von dieser charakterstarken Powerfrau an die eigenen Grenzen geführt; er kämpft einen moralischen Zweikampf, den er nicht gewinnen kann.
Und das macht den Zauber dieser hinterfragten und hinterfragenden Klassiker-Kurzversion aus: Statt sich in der sprachlichen Schönheit Goethescher Verse zu ergehen und die Kunst des Dichterfürsten über mehr als drei Stunden zu zelebrieren, setzt dieser „Faust“ auf eine bis zum Anschlag angezogene Temposchraube, grellbunte Tableaus und sinnvolle Reduktion. Dadurch rücken die Persönlichkeiten der Protagonisten, ihre Obsessionen und Träume, ihre Visionen und realen Lebensverhältnisse in den Fokus.
Abstraktes Dasein
Aus Daniel Leistners Sicht zerbricht Fausts Lebensglück letztlich an der Distanz, die der manisch-depressive Wissenschaftler zum „wirklichen Leben“ hält. Faust führt ein uneigentliches, beinahe abstraktes Dasein, gibt seinem einfach gestrickten Famulus Wagner (zum Schmunzeln: Holger Lappe) untaugliche Ratschläge und will die Leere seiner Existenz durch Gift beenden — vergebens und vorhersehbar, selbst wenn man Goethes Stück nicht kennt.
Wie man es anders macht, beweist Mephisto, wenn er einem unbedarften Schüler (wunderbar naiv: Jan Madalsky) erklärt, wie der Hase im Leben und in der Wissenschaft tatsächlich läuft und gerade dadurch, dass er dabei nichts beschönigt und nichts erfindet, die Verwirrung des Jungen verstärkt. Am Ende lacht er ihn gnadenlos davon, wie es nur der Teufel kann.
Um die lebenden Bilder möglichst vielfarbig zu gestalten, hat Daniel Leistner einheimische Statisten verpflichtet, die dem turbulenten Treiben in sauber durchchoreografierten Massenszenen Lokalkolorit geben und den Eindruck verstärken, eine packende Parabel über das Menschsein und über die Abgründe, die die Seele für den Nichtsahnenden bereit hält, zu sehen.
Wer die Premiere verpasst hat, kann sich den „Faust“ an diesem Wochenende (Samstag und Sonntag, 5./6. November, jeweils 20 Uhr) in der alten Turnhalle des Gymnasiums Pegnitz anschauen. Informationen gibt es unter www.faust-festspiele-pegnitz.de<
HANS VON DRAMINSKI (Nordbayerische Nachrichten/Nordbayerischer Kurier 05.11.2016)
Fotos: Saß